Zeichnen lernen

Wenn man Sie fragt: Können Sie zeichnen?
sagen Sie: JA!
Sie werden es schon lernen.

ZEICHNEN LERNEN?
EINE ÜBUNG
von Friederike Groß

Was man nicht gezeichnet hat, hat man nie wirklich gesehen. 
Selbst wer etwas Einfaches zeichnet, stellt bald fest, wie außergewöhnlich es ist – kann es ausserdem detailreicher und nachhaltiger im visuellen Gedächtnis speichern.

Zeichnen Sie ein Ei so präzise wie möglich.

Die Selbstverständlichkeit, Lesen und Schreiben zu lernen, sollte auch für die Bildbetrachtung und das Zeichnen gelten. In unserer visuell orientierten Welt ist es von Vorteil, Gedanken nicht nur in schriftlicher Form festzuhalten oder abrufen zu können. Das große Kino im Kopf, bildhafte Imaginationen, visuelle Ideen können auch in unserem hochtechnisierten Computerzeitalter immer noch am unmittelbarsten und einfachsten über die Zeichnung vermittelt werden. So ist vor allem die Sachzeichnung neben dem elementaren Zweck, etwas abzubilden, nicht nur eine grundlegende Lockerungsübung, sondern ebenso eine Seh- und Wahrnehmungsergänzung.

Die Ökonomie der zeichnerischen Mittel lässt rasche Reaktionen auf Veränderungen von Beobachtungen zu. Sehen, Denken und Zeichnen sind ein aufeinander abgestimmter Prozess. Dabei ist „kaum zu unterscheiden, ob genaues Sehen noch Sehen ist, oder schon ein Gedanke“ (Rainer Malkowski in „Hinterkopfgeschichten“, Zürich, 2000) 

Zeichnen Sie, was sich aus einer Nacht zusammensetzt und mit dem Morgen zerfällt.

Wie kann ich wissen was ich denke, bevor ich sehe, was ich zeichne?
Was für die „(…) allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Heinrich von Kleist, Tractat 1805) gilt, ist auch auf das zeichnerische Entwerfen von Visionen übertragbar.  

Zeichnen Sie ein geknülltes Papier. Stellen Sie Ihre Zeichnung dann in einen neuen Kontext (drehen Sie sie gegebenenfalls um ihre Achse).

Mit der ersten Markierung schon wird die zunächst noch frei schwebende, amorphe Imagination auf dem Papier festgezurrt. Hier herrschen andere Bedingungen als in der fliessenden Gedankenwelt. Ab jetzt denkt der Stift mit. Auf dem Papier entwirft er einen neuen Denkraum. Dazu bedarf es zahlreicher unbewusster, auch bewusster Entscheidungen, vage Vorstellungen zu konkretisieren. Selbst feinste Liniengespinste erhalten auf dem Papier Festigkeit. Im Unterschied zum gedanklichen Entwurf verflüchtigen sie sich nicht mehr. Denn was im flüssigen Gedankenspiel beweglicher, rasch wechselnder oder sich überlagernder Ideen schwer zu greifen ist, ergibt auf dem Papier etwas ganz Neues, das erst aus der Distanz zwischen Papier und Kopf heraus in seiner gesamten Dimension übersehbar wird. 
Kann man eine optische Wahrnehmung auch in eine fremde Hand übertragen? 

Diktieren Sie ein Portrait.

Wichtig ist hier die Präzision der Betrachtung, der Verbalisierung des Gesehenen, die Präzision des Zuhörens und der zeichnerischen Umsetzung. Wie genau kann eine komplexe Wahrnehmung sein, dass sie in das Vorstellungsvermögen einer anderen Person eindringt und entsprechend eindeutig umgesetzt wird? Viele Faktoren bestimmen die Ähnlichkeit zwischen Zeichnung und Portrait. Ergebnisse von Studierenden aus diesem Experiment zeigen, dass der visuelle Gedanken-Transfer verblüffend gut funktionieren kann. 

Schliessen Sie die Augen. Berühren, fühlen und erkunden Sie Ihr Gesicht mit der einen Hand und korrespondieren Sie gleichzeitig mit dem Bleistift/Zeichenmaterial mit der anderen Hand auf Papier (Papier auf dem Zeichenbrett/Tischplatte befestigen).

Ihre Portraits könnten Zeichner:innen sehend sicher geschmeidiger wiedergeben. Doch bei diesem Experiment spielt Virtuosität keine Rolle. Der Umweg wird zur Strategie. Durch den geplanten Unsicherheitsfaktor, sich statt durch den Spiegel durch den Tastsinn wahrzunehmen, erhält die Zeichnung eine feine Linienqualität, die sich von routinierten Strichen abhebt. Technische Kenntnisse im Sinne von eingeübten Fertigkeiten sind eine gute Grundlage, doch interessant wird es besonders dann, wenn „Technik“ so überschritten wird, dass das Können zu einer „nicht gekonnten Kunst“ wird: Wenn der Hand mehr Bedeutung und Freiheit zukommt, weil der Kopf nicht über sie bestimmt.
 An dieser Stelle soll die Frage erlaubt sein, was dazu legitimiert, eine grundsätzlich gegebene Freiheit im „freien“ Zeichnen durch eine Aufgabe einzuschränken. Gibt es überhaupt eine freie Kunst, wo doch selbst sich frei wähnende Kunstschaffende immer auch ihre eigene Auftraggeber sind?
Architekt:innen (auch Illustrator:innen oder Karikaturist:innen im Beschäftigungsverhältnis) beginnen in der Regel meistens dann mit ihrer Arbeit, wenn fremd bestimmte Vorgaben oder Themen schon auf dem Tisch liegen. Sobald Auftragnehmende in den gegebenen Umständen und Aufgaben einen Reiz erkennen, können sie sich vom Schatten der Auftraggeber:innen befreien und für sich neu definieren. 
„ … Bei jedem griechischen Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen: welches ist der neue Zwang, den er sich auferlegt und den er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (so dass er Nachahmer findet)? Denn was man „Erfindung“ (….) nennt, ist immer eine solche selbstgelegte Fessel. „In Ketten tanzen“, es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, — das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen.“ (Friedrich Nietzsche, „Menschliches, Allzumenschliches“, 1879)

Unabhängiger Spielraum ist im Kunstschaffen trotz aller Umstände durchaus gegeben. Denn jeder Auftrag, ob er nun von aussen kommt oder ein eigener ist, kann gerade in seiner Beschränkung zur Herausforderung werden und ungeahntes Potenzial entfalten. Erst der im Schaffensprozess selbst auferlegten Zwang ergibt ein Konzept, das aus seiner ganz eigenen Ordnung neue Freiräume schafft. 

Spielen Sie das Spiel, kein Spiel zu spielen und zeichnen Sie es auf.

In der Regel steckt die Spielregel. 
Warum das Spiel besonders auch beim freien Zeichnen wichtig ist, wird spätestens dann klar, wenn man nach Ideen sucht. Denn was wir häufig brauchen, sind gute Ideen. Vor allem im Marketing und Medienbereich forscht man an Kreativitätstechniken. Doch die ultimative Herleitung einer guten Idee ist noch nicht gefunden. Immer noch sind Glück und Zufall dafür ausschlaggebend. 

Zeichnen Sie ein Detail aus Ihrer Umgebung und stellen Sie sich dabei vor, Ihr Auge sei ein Mikroskop. Machen Sie dabei sichtbar, was mit blossem Auge nicht erkennbar ist.

Auf der Suche nach Lösungen ist es manchmal hilfreich, die Ausgangsposition als Frage zu formulieren. Fragen fordern Antworten heraus. Durch Perspektiven- oder Positionswechsel, durch vergleichende Gegenüberstellungen, Über- und Untertreibungen, durch Übertragung in andere Größenverhältnisse, durch das Spiel mit Bedeutungsebenen (z.B. Doppeldeutigkeit), durch Freigeben von Innenansichten, Kombinationen mit anderen Bereichen, Auslassungen, Hinzufügungen, optischen Täuschungen, Persiflagen oder Parodien gelangt man auf die Umwege, wo sich auch Ideen bisweilen aufhalten. 

Wer ein wenig kombiniert, erkennt bald, dass im Spiel mit verschiedenen Parametern Ideenfindungsstrategien stecken. Um Ideen herbeizulocken, begibt man sich zeichnend auf gedankliche Nebenstrecken. Spielerisch. Unprätentiös und ohne Erwartungsdruck.
Wichtig ist dabei die innere Gewissheit, AUF JEDEN FALL zu einer Idee zu gelangen Früher oder später wird sie sich einstellen. 

Da sich Inhalt und Form gegenseitig bedingen, seien zwei Faktoren herausgestrichen, die bei der Ausführung wichtig sind: Lust und Notwendigkeit: So viel wie nötig, nicht mehr und nicht weniger – und das mit lustvoller Hingabe und Konzentration und den dafür geeigneten Mitteln. Dann gilt es zu Skizzieren, Entwerfen, Kritzeln, Schraffieren, Zeichnen, Zeichnen, Zeichnen, Zeichnen –  bis das Unmögliche als leichte Übung erscheint.   

Verbeugen Sie sich mit einem Lächeln.